Unkräuter sind die natürlichen Gegenspieler unserer Kulturpflanzen. Sie konkurrieren um Nährstoffe, Licht und Wasser. Allerdings gibt es auch sehr innige, teilweise sogar intimste genetisch-verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Kulturpflanzen und Unkräutern und diese möchte ich hier beleuchten.

Zu dem Thema Unkraut bin ich durch meine Arbeit in diesem Herbst gekommen. Im Versuchsbetrieb Neu Eichenberg der Uni Kassel habe ich vor kurzem hunderte von Ernteproben eines diesjährigen Weizenversuchs aufgereinigt. Dabei habe ich eine kleine Saatgutreinigungsmaschine genutzt, wie sie in dem Foto links (nur etwas größer) zu sehen ist. Durch die Aufreinigung werden Spelzen und Unkrautsamen von den Weizensamen getrennt, um so die Weizenerträge ermitteln zu können. Die Maschine hat dabei Unmengen von Samen des Klettenlabkrautes herausgeholt. In einigen Proben war der Anteil dieser Unkrautsamen bei knapp 17% des Gesamtertrages (Weizensamen+Samen des Klettenlabkrautes). Insgesamt habe ich aus dem Versuch17,9 kg Klettenlabkrautsamen herausgereinigt, was gut drei Eimer gefüllt hat. Die Samen des Klettenlabkrautes stechen durch ihre dunkle Farbe zwischen den Weizenkörnern hervor. Allein die schiere Menge dieser Unkrautsamen ist erstaunlich und lässt einen ins Grübeln kommen.

Klettenlabkraut ist ein typisches Unkraut in Weizenkulturen und kann zu einem ernsthaften Problem werden. Seine Samen sind kugelrund und haften stark an Fell oder auch Stoff, wie z.B. an den Erntesäcken, um sich auf diesem Wege auszubreiten. Weil sich die Weizensamen ihrer Form nach stark von diesen Unkrautsamen unterscheiden, lassen diese sich leicht durch mechanische Verfahren (Windsichter und Trieur) trennen. Dies verhindert eine Wiederaussaat auf die Äcker. Allerdings wird dies durch in den Säcken haftenden Samen wieder konterkariert.

Für viele Menschen sind Unkräuter ein Ärgernis oder bestenfalls völlig uninteressant. Sie sind aber ein entscheidender Faktor auf allen Äckern und Gärten und begleiten unsere Kulturpflanzen schon über viele tausend Jahre. Unkräuter können zu massiven Ertragsverlusten führen. Landwirte und Gärtner betreiben einen erheblichen Aufwand um ihrer mittels mechanischer Verfahren oder chemischer Herbizide Herr zu werden. Allerdings sind sie auch Teil der biologischen Vielfalt auf den Äckern und Lebensgrundlage vieler Insekten.

Abends nach der Aufreinigungs-Arbeit habe ich in dem Buch Crops and Man von Jack Harlan geschmökert. In dem Kapitel „What is a weed?“ (Harlan 1993, S. 85) erkundet Harlan einige der wichtigsten Aspekte der Natur von Unkräutern. Dies war für mich der Anfang, um die Natur der Unkräuter etwas weiter zu erforschen und die interessanteste Erkenntnis möchte ich hier teilen.

Unkräuter als Pioniere in gestörten Ökosystemen

Zuerst möchte ich mich der bio-ökologischen Natur der Unkräuter nähern. Für einige Menschen gibt es allerdings so etwas gar nicht. Sie meinen Unkräuter seien eine menschengemachte Kategorie und damit sozial konstruiert. Dann wird oft auf den vermeintlich neutraleren Begriff der „Beikräuter“ verwiesen. Und da ist natürlich viel Wahrheit dran. Was für den einen ein Unkraut ist, ist für den anderen eine leckere Zutat im Salat. Aber dennoch haben Unkräuter durchaus besondere biologische Eigenschaften, die sich nicht als soziale Kategorien dekonstruieren lassen sondern ihre bio-ökologische Natur sind. Harlan et al. definieren Unkräuter als Organismen, die an menschliche Störungen in Ökosystemen angepasst sind (Harlan et al., 1973, p. 319). Diese speziellen ökologischen Anpassungen, geben den Unkräutern das Potential, bei Menschen so unbeliebt zu sein. Unkräuter sind sogenannte Pionierpflanzen, die gut mit regelmäßigen ökologischen Störungen umgehen können. Diese Störungen treten in allen natürlichen Ökosystemen auf, z.B. Feuer, Stürme, Trockenzeiten, Fluten oder auch Beweidung. Die Agrarökosysteme sind durch die menschlichen Eingriffe wie Bodenbearbeitung, Aussaat und diverse Pflegemaßnahmen ständigen Störungen ausgesetzt. Ackerbauliche Agrarsysteme werden fast jedes Jahr – durch Grubbern, Pflügen, Säen – auf den Kopf gestellt. Pionierpflanzen haben sich an regelmäßige Störungen angepasst und können schnell neue Räume wiederbesiedeln und sich Ressourcen aneignen. Sie haben meist ein schnelles Jugendwachstum, kurze Reproduktionszyklen, sind einjährig und produzieren Unmengen von Samen. Die natürlich vorkommenden Pioniere sind damit präadaptiert für unsere Agrarökosysteme. Mit unseren Agrarsystemen schaffen wir diesen Pionierpflanzen neue gigantische Lebensräume und wir sollten uns nicht wundern, dass sie sich dort breitmachen.

Interessanterweise teilen damit Unkräuter eine Reihe ökologischer Anpassungen mit unseren Kulturpflanzen. Dagegen unterscheiden sich Unkräuter dadurch, dass ihre Samen eine ausgeprägtere Dormanz haben und ihre Samen nach der Reife abwerfen. Damit stehen die Unkräuter gewissermaßen zwischen den wilden Pflanzen und unseren Kulturpflanzen, die keine Samen-Dormanz mehr besitzen und die Samen nach der Reife nicht abwerfen (Harlan et al., 1973, p. 319).

Evolution von Unkräutern: die vavilonische Mimikry von Kulturpflanzen

Die Unkräuter sind aber nicht nur durch ihre ursprüngliche Biologie an unsere Agrarökosysteme angepasst. Vielmehr passen sich Unkräuter durch evolutive Prozesse fortwährend neu an unsere Agrarökosysteme an. Ein besonders interessantes Beispiel ist die sogenannte vavilonische Mimikry (McElroy, 2014). Dies ist eine besondere evolutionäre Strategie von Unkräutern. In einem evolutionären Prozess werden diese den Kulturpflanzen zunehmend ähnlicher. Ein gutes Beispiel ist die Saat-Wicke Vicia sativa. Diese kann in Linsenbeständen zu einem bedeutenden Unkraut werden. Normalerweise besitzen Wicken eher rundliche Samen. Allerdings haben sich in der Landwirtschaft Wicken-Formen gebildet, die flache, linsenförmige Samen bilden wie die Linse selbst. Bedingt wird dies durch eine einzige rezessive Punktmutation (Barrett, 1983). Diese Mutation verhindert, dass die Aufreinigung durch einen Windsichter oder Trieur die Samen der Wicken von den Samen der Linse trennt. Dadurch werden die Wicken zusammen mit den Linsen von den Landwirten wieder ausgesät. Die Wicke imitiert die Samenform der Linse und macht sie für die menschliche Technik ununterscheidbar. In diesem Fall handelt es sich um konvergente Evolution zweier nicht direkt miteinander verwandter Pflanzen.

Es gibt allerdings auch intimste genetische Verwicklungen zwischen Kulturpflanzen und verwandten Unkräutern, die zu vavilonischer Mimikry führen. Ein Beispiel ist Sorghum in Afrika (Hirse). Hier gibt es Unkraut-Formen der Hirse, die als sogenannte „shattercanes“ bezeichnet werden (Harlan, 1992, p. 91). Diese ahmen die Kulturform in ihrer Statur und Ährenform nach. In Regionen, wo Hirsen mit kompakter Ährenform angebaut werden, haben auch die shattercanes kompakte Ähren. In Regionen dagegen, wo Hirsen mit lockerer Ährenform kultiviert werden, haben auch die shattercanes eine lockere Ährenform. Somit sind diese durch den Landwirt nur schwer von der Kulturform zu unterscheiden und zu bekämpfen. Allerdings werfen die shattercanes ihre Samen nach der Reife ab und säen sich so selbst wieder aus. Die morphologische Ähnlichkeit ist wahrscheinlich durch genetischen Austausch der wilden Form mit der Kulturform bedingt. In den USA dagegen, wo es keinen wilden Sorghum gibt, findet man eine Unkrautform von Sorghum, die sich nachweislich alleine aus der Kulturform entwickelt hat ohne genetische Durchmischung mit wilden Hirsen (das erkennt man an einem anderen morphologischen Mechanismus durch den die Samen abgeworfen werden).

Die Evolution vom Unkraut zur Kulturpflanze: Roggen und Leindotter

Das Ganze geht aber noch einen Schritt weiter. Durch die vavilonische Mimikry können sich aus Unkräutern sogar Kulturpflanzen entwickeln. Vavilov hat diese als sogenannte sekundäre Kulturpflanzen (secondary crops) bezeichnet. Ein gutes Beispiel ist der Leindotter (Harlan 1992, S.93). Ursprünglich war er ein Unkraut in Leinäckern. Leindotter ist bio-ökologisch ein typisches Unkraut mit einem schnellen Vermehrungszyklus und schnellem vegetativem Wuchs. Im Laufe der Zeit ist der Leindotter so evolviert, dass seine Samen gleichzeitig mit Lein abreifen und an den Samenständen verbleiben, so dass er zusammen mit dem Lein geerntet wird. Zudem hat Leindotter eine ähnliche Samengröße wie Lein, so dass sich diese nur schwer voneinander trennen lassen und der Leindotter mit dem Lein wieder ausgesät wird (wenn die Reinigung unvollständig ist). Außerdem gibt es verschiedene Leindotter-Varianten, die sich an verschiedene Klimata und Kulturpraktiken von Lein in Europa angepasst haben (Gould 1992).

Irgendwann begann der Mensch sich die Samen des Leindotters zur Ölgewinnung zunutze zu machen. Leinöl wird zur Herstellung von Lasuren für die Holzveredelung genutzt oder aber auch als Speiseöl. Besonders interessant ist, dass Leindotter heute auch in Mischkulturen z.B. mit Erbsen zur Unkrautunterdrückung eingesetzt wird (siehe Bildergalerie). Da er sehr rasch wächst aber nicht zu dominant wird, kann er die Frühverunkrautung in Erbsenbeständen reduzieren. Er schließt gewissermaßen die Nischen in denen sich sonst die Unkräuter breit machen würden.

Auch der Roggen (Secale cereale) ist wohl ursprünglich aus einem Unkraut in Gersten-  und Weizenfeldern im östlichen Hochland der Türkei entstanden (McElroy, 2014; Sencer and Hawkes, 1980). Die Ursprungsform war möglicherweise Secale montanum. Die Anpassung an die Kulturpflanze waren eine Zunahme der Samengröße und das Verbleiben der Samen an den Samenständern der Pflanze. Hierdurch wurden Roggen und Weizensamen gemeinsam geerntet und konnten von den Landwirten nicht mehr gut voneinander getrennt werden. In Regionen mit kühlerem Klima und mageren Böden, an die Roggen besser als Gerste oder Weizen angepasst war, wurde er dann zunehmend als Kulturpflanze genutzt. Auch der Hafer ist möglicherweise durch vavilonische Mimikry entstanden. Damit stellen Unkräuter eine Art evolutive Zwischenstufe zwischen Wildformen und Kulturpflanzen dar, die in manchen Fällen zu neuen Kulturpflanzen führt.

Herbizidresistenzen als vavilonische Mimikry

Auch die Entstehung von Resistenzen gegen Herbizide lässt sich als eine Art Mimikry auf molekularer Ebene verstehen (McElroy 2014, Gould 1992). Der massivste Einsatz von Herbiziden findet in Agrarsystemen mit gentechnisch veränderten Organismen statt, in die eine Herbizidtoleranz eingebracht wurde, wie z.B. bei dem sogenannten round up ready Mais, welcher gegen Glyphosat resistent ist. Wird dieses auf großen Skalen häufig verwendet, werden dadurch zwar die meisten Unkräuter vernichtet. Gleichzeitig aber werden auch die wenigen Individuen selektiert, die eine Resistenz gegen das Herbizid tragen. Dadurch kann das Herbizid gewissermaßen nicht mehr zwischen Kulturpflanze und Unkraut „unterscheiden“. Durch Mutationen im Genom und darin codierten physiologischen Eigenschaften hat sich eine molekulare vavilonische Mimikry gebildet.

Zitierte Literatur

Harlan, J.R., 1992. Crops and man. American Society of Agronomy.

Harlan, J.R., De Wet, J.M.J., Price, E.G., 1973. Comparative evolution of cereals. Evolution 27, 311–325.

McElroy, J.S., 2014. Vavilovian mimicry: Nikolai Vavilov and his little-known impact on weed science. Weed Sci. 62, 207–216.

Sencer, H.A., Hawkes, J.G., 1980. On the origin of cultivated rye. Biol. J. Linn. Soc. 13, 299–313.

Weitere Literatur

Baker, H.G., 1974. The evolution of weeds. Annu. Rev. Ecol. Syst. 5, 1–24.

Barrett, S.H., 1983. Crop mimicry in weeds. Econ. Bot. 37, 255–282.