Hier sieht man das im Aufbau befindliche Gewächshaus des Gemeinschaftsgartens Querbeet im Leipziger Osten. Gemeinschaftsgärten sind spezielle Formen alternativer Biokultursysteme.


Wenn es in Diskussionen darum geht, was die zentralen Elemente unserer Wirtschaft sind, werden an erster Stelle meist Geld, Kapital, Märkte, Nachfrage und Angebot, Wachstum sowie technisch-wissenschaftlicher Fortschritt und Innovationen genannt.

Seit einiger Zeit setzt sich zunehmend ein neues Konzept von Ökonomie durch, welches die lebendige Natur, also Leben, zu ihrer zentralen Grundlage macht: die Bioökonomie. Es wurde z.B. eine nationale Forschungsstrategie Bioökonomie ins Leben gerufen, die über sechs Jahre insgesamt 2,4 Milliarden Euro für Projekte in den Bereichen Lebensmittel, Bioenergie und industrielle Rohstoffe zur Verfügung stellt. Außerdem wurde ein sogenannter Bioökonomierat eingerichtet, um die Politik in Sachen Bioökonomie zu beraten. Bald kann man sogar „Bio-Ökonomik und nachhaltige Innovation“ in Straubing studieren. An der Universität Halle gibt es den „Wissenschaftscampus pflanzenbasierte Bioökonomie“.

Die Bioökonomie ist ein wichtiges und wohl auch durchaus fruchtbares Konzept der aktuellen Zeitgeschichte. Allerdings besteht die Gefahr, dass es aufgrund seiner derzeitigen Dominanz eine Reihe gefährlicher blinder Flecken erzeugt. Prominentestes Beispiel ist die politisch geförderte Nutzung von Biomasse als Energieträger für den Automobilverkehr. Aufgrund der begrenzten Menge an fruchtbaren Böden tritt die Kraftstoffproduktion aus Biomasse in Konkurrenz zur Lebensmittelherstellung, die ebenfalls fruchtbare Böden benötigt. Etwas fundamentaler betrachtet ist aber auch zu hinterfragen, ob das Verständnis von Leben als „Biomasse“, wie es in der Bioökonomie vertreten wird, den Eigenschaften des Phänomens Leben gerecht wird und ob es einen angemessenen Umgang mit Leben fördert.

Deshalb ist die Bioökonomie und ihre Perspektive auf das Phänomen Leben und unserem Verhältnis zu diesem unbedingt kritisch zu hinterfragen. Dies hat die Autorin Christiane Grefe in ihrem Buch „Global Gardening“ getan und schlägt vor das Konzept der Bioökonomie entsprechend zu ergänzen, insbesondere um die Aspekte Mitbestimmung („Bioökonomie von unten“, Kapitel 6) und soziale Gerechtigkeit („Das Herz der Bioökonomie muss Gerechtigkeit sein“, Kapitel 7).

Allerdings bedarf es nicht nur einer konstruktiven Weiterentwicklung des Konzeptes der Bioökonomie sondern auch völlig neuer, ergänzender Konzepte, die die blinden Flecken der Bioökonomie in den Fokus nehmen. Dies ist notwendig, weil sonst das Konzept der Bioökonomie immer unschärfer und damit auch wertloser wird. Es bringt nichts, dieses Konzept immer weiter, bis zur Unkenntlichkeit, aufzuweichen und um neue Aspekte zu ergänzen. Es würde zu einem bedeutungslosen „Plastikwort“ werden, welches von verschiedenen Interessensgruppen instrumentalisiert wird, um ihre jeweilige Agenda voranzutreiben. Es macht daher mehr Sinn, einen Gegenentwurf zu schaffen, der in einen durchaus scharfen aber konstruktiven Dialog mit der Bioökonomie treten kann. An dieser Stelle möchte ich daher kurz die Idee der Bioökonomie vorstellen und dann einen Entwurf eines eigenen Gegenkonzeptes vorstellen, der Biokultur. Beide kann man als alternative Entwürfe sogenannter gesellschaftlicher Naturverhältnisse bezeichnen. Es geht darum, wie wir das Verhältnis der menschlichen Gesellschaft zur biologischen Vielfalt verstehen und wie wir dieses politisch, wirtschaftlich und in unserem Alltag gestalten.

Bioökonomie: Leben als Ressource, Innovation und Privateigentum

Ausgangspunkt der Bioökonomie ist, dass das Ende fossiler Ressourcen mittlerweile auch im ökonomischen Mainstream angekommen ist und auch hier auf erneuerbare Ressourcen gesetzt wird. Erneuerbarkeit liegt fundamental in der Natur des Phänomens Leben. Leben ist die erneuerbare Ressource par excellence. Deshalb ist eine Ökonomie, die auf erneuerbare Ressourcen setzt, fundamental auf Leben angewiesen.

Was aber ist neu an der Bioökonomie? Eigentlich basierte unsere Ökonomie auf der Erde immer schon in weiten Teilen auf Leben, sowohl die Nahrungsmittelproduktion durch Landwirtschaft und Gartenbau als auch ein Großteil der Produktion anderer Rohstoffe, wie Fasern für Kleidung (Baumwolle) oder Holz als Baustoff. Für all diese Wirtschaftsgüter waren die Menschen schon immer auf Leben angewiesen, vor allem auf Kulturpflanzen, Nutztiere oder auch Mikroorganismen. Die Bioökonomie geht aber einen Schritt weiter. Jetzt sollen auch ehemals aus fossilen Rohstoffen produzierte Produkte aus lebendigen Organismen hergestellt werden, z.B. biobasierte Kunststoffe und Treibstoffe, die von Mikroorganismen in Bioreaktoren oder Pflanzen auf dem Feld hergestellt werden. Leben wird in der Bioökonomie zu der zentralen Ressource im Produktionsprozess. Das Verständnis von Leben in der Bioökonomie kommt wunderbar in dem Ausdruck „Biomasse“ zum Vorschein. Leben ist eine „Masse“, die entweder als Energieträger, z.B. im Autoverkehr Verwendung findet, oder aber als Rohstoff für die Produktion von „Bioplastik“ oder Chemikalien dient. Das Abhängigkeitsverhältnis von Gesellschaft und Leben ist in der Bioökonomie einseitig. Die Wirtschaft braucht das Leben als Ressource, aber das Leben braucht nicht die Wirtschaft.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Leben aus der Perspektive der Bioökonomie ist ein ingenieurtechnisches Verständnis von Leben. Organismen werden nicht mehr nur durch klassische Kreuzungszucht verändert oder durch die mittlerweile „klassische“ Gentechnik leicht modifiziert. Leben wird nun durch neue gentechnische Ansätze, wie dem Genome Editing, rasend schnell verändert und für den Produktionsprozess optimiert. In der synthetischen Biologie werden ganze Organismen neu konstruiert oder aber radikal umgebaut (die „Humanisierung“ von Hefezellen zur Produktion von Pharmazeutika). Das Leben wird immer mehr integraler Teil der industriellen Produktionsmaschinerie und verschmilzt mit dieser.

Mit dieser ingenieurstechnischen Perspektive geht die Betrachtung von Leben als Erfindung und Innovation einher. Leben wird also das Ergebnis eines kreativen Aktes, es wird geplant und entworfen. Damit einher geht aber auch die Privatisierung von Leben, z.B durch Patentierung. Im Bereich des Genome Editings z.B. überschlagen sich derzeit die Meldungen über die Entwicklung neuer Therapien (Gentherapie, die demnächst in die klinische Phase gehen soll), sowie neuer Gemüse-, Früchte- und Pilzsorten oder neuer Nutztiere. Außerdem soll, etwas provokativ ausgedrückt, ein Elefant gentechnisch zum Mammut umgebaut werden. Eine weitere Anwendung ist das sogenannte Gene Drive, welches dafür sorgt, dass sich bestimmte Gene in Windeseile in wilden Tierpopulationen ausbreiten, um z.B. die Träger (vor allem Insekten) von Krankheitserregern wie dem Zikavirus zu bekämpfen. Die Bioökonomie ist ein fortschrittsorientiertes Modell von Leben.

Biokultur als Alternative zur Bioökonomie

Kommen wir nun zur Biokultur, welche als Gegenentwurf zur Bioökonomie gedacht ist. Das Konzept der Biokultur ist keineswegs generell besser als die Bioökonomie. Aber es kann die blinden Flecken dieser beleuchten und eine neue bisher vernachlässigte Perspektive auf Leben und Gesellschaft schaffen.

Die Bioökonomie vernachlässigt eine Reihe fundamentaler Eigenschaften von Leben durch die Reduktion auf eine Ressource im Produktionsprozess. Biokultursysteme verstehe ich als ein wissenschaftlich-deskriptives Modell für ein Gesellschafts-Naturverhältnis, welches die grundlegenden Eigenschaften von Leben und wie wir als Menschen mit diesem interagieren, im Gegensatz zur Bioökonomie, berücksichtigt. Die Verknüpfung von Leben (Bio) mit dem Phänomen der Kultur schafft eine eigene ganz besondere Perspektive auf Leben, sein Verhältnis zu unserer Gesellschaft, wie wir dieses gestalten und zwar über viele Menschengenerationen hinweg.

Dabei möchte ich betonen, dass die hier vorgestellten Konzepte und Ideen keineswegs völlig ausgereift sind. Ich möchte aber nicht, wie in der Wissenschaft oft üblich, eine Idee erst dann veröffentlichen, wenn sie mir perfekt ausgereift erscheint. Das Konzept der Biokultur und der Biokultursysteme verstehe ich daher als einen ersten Schritt eines work in progress.

Biokultursysteme: die Verschränkung von Biodiversität, Technologie und Gesellschaft

Kommen wir also zuerst zum deskriptiv-wissenschaftlichen Kern der Biokultur, den Biokultursystemen. Biokultursysteme verschränken biologische Vielfalt, Ökosysteme und Gesellschaft in einem System. Biokultursysteme sind ein wissenschaftliches Modell der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, welches bisher meines Wissens nicht existiert, und erlauben eine innovative analytische Perspektive. Das Konzept der Biokultursysteme ergänzt damit andere Konzepte gesellschaftlicher Naturverhältnisse, wie humanökologische Modelle (z.B. das von Park, zitiert in Glaeser und Teherani-Krönner, 1992, S. 28), den Ansatz sozial-ökologischer Modelle oder auch analytischen Ansätzen aus der Kulturökologie (Bargatzky 1986). Der in unserem menschlichen Denken oft vorherrschende Dualismus von Natur und Gesellschaft wird in den Biokultursystemen überwunden. Biologische Systeme und Prozesse werden mit kulturellen und technischen Systemen und Prozessen verbunden. Biokultursysteme bestehen aus folgenden Elementen:

  1. Modifizierte oder künstliche Habitate (Lebensräume): Diese werden vom Menschen zum Zwecke der Kultivierung von Kulturpflanzen, Nutztieren und Mikroorganismen geschaffen.
  2. Den Menschen: Diese haben Bedürfnisse an Nahrung und anderen Produkten aus lebenden Organismen. Außerdem ist der Mensch Kultivierer biologischer Vielfalt, in dem er z.B. als Gärtner, Landwirt, Brauer, Biotechnologe oder Gentechnologe tätig wird und Kulturhabitate schafft sowie die Organismen züchtet.
  3. Die kultivierte biologische Vielfalt: Diese umfasst die ungeheure Vielzahl an Sorten von Nutzpflanzen und Nutztier-Rassen, sowie kultivierte Mikroorganismen. Diese haben ganz besondere Erfordernisse an ihre Kultivierung und Fortpflanzung, die nur durch kultivierte Habitate erfüllt werden.
  4. Technologie und Wissen zur Kultivierung biologischer Vielfalt (Kultur): Das Kultivieren der Habitate und die Züchtung neuer Nutzpflanzen erfordert je nach speziellem Biokultursystem spezifisches Wissen und Technik. Dies schließt sowohl traditionelle Kulturtechniken als auch modernste Gentechnik, Biotechnologie oder Informationstechnologie ein. All diese Techniken, Technologie und Wissen machen den kulturellen Teil von Biokultursystemen aus.

Alle vier Elemente sind existenziell aufeinander angewiesen und konstituieren die Biokultursysteme. Es gibt verschiedene Typen von Biokultursystemen: Aquakultursysteme, Landwirtschaftsysteme, Gartenkultursysteme und Fermentationssysteme. Jedes erfordert spezifische Technologie, Wissen und kultivierte biologische Vielfalt.

Biokultursysteme versorgen uns mit Lebensmitteln (fast alle Lebensmittel sind biologischen Ursprungs), Medikamenten (ein erheblicher Teil des Apothekensortimentes ist biotechnologischen Ursprungs), biologischen Baumaterialien (Holz und Fasern) und biologischen Energieträgern (Bioethanol, Biogas, Biodiesel).

Aus den Eigenschaften von Biokultursystemen lassen sich einige weitere wichtige Aspekte ableiten, auf die ich im Folgenden eingehen und dabei besonders auf die Unterschiede zur Bioökonomie hinweisen möchte.

Die gegenseitige Abhängigkeit kultivierter Biodiversität und unserer Gesellschaft

Aus der Perspektive der Bioökonomie ist unsere Wirtschaft abhängig vom Leben als zentraler Ressource. Umgekehrt aber ist das Leben nicht abhängig von der Wirtschaft. Auch das Konzept der Ökosystemdienstleistungen versteht das Verhältnis von Mensch zu Natur eher als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Innerhalb von Biokultursystemen dagegen besteht eine wechselseitige Abhängigkeit unserer Gesellschaft und der kultivierten biologischen Vielfalt.

Einerseits ist die arbeitsteilige und kulturell vielfältige und ausdifferenzierte Gesellschaft angewiesen auf die Produktivität der Biokultursysteme. Menschen und bestimmte Gesellschaften können zwar außerhalb dieser existieren, aber nicht moderne, kulturell differenzierte Gesellschaften. Zudem ist die menschliche Population mit mittlerweile rund 7,4 Milliarden Menschen biologisch abhängig von der Produktivität der Biokultursysteme. Die Menschheit ist abhängig von kultivierten Habitaten, kultivierter biologischer Vielfalt sowie Wissen und Kulturtechniken für deren Kultivierung. Es ist unvorstellbar, dass sich die derzeitige menschliche Population allein durch die Produktivität unkultivierter Ökosysteme ernährt.

Andererseits ist auch die kultivierte biologische Vielfalt nur noch in den Kultursystemen überlebensfähig oder aber sie hat unter natürlichen Bedingungen eine reduzierte Fitness im darwinistischen Sinne. Die Abhängigkeit domestizierter Organismen von Kulturhabitaten wird als Domestikationssyndrom bezeichnet (Gepts 2004). Ohne Kultursysteme würde diese kultivierte biologische Vielfalt zu einem großen Teil aussterben. Bei modernem Kultur-Weizen lösen sich die Samenkörner nicht mehr so einfach von der Pflanze, so dass die für das dauerhafte Überleben einer Art so wichtige Ausbreitung ohne Menschenhand kaum noch möglich ist. Viele Hybridsorten benötigen zur Reproduktion die technischen Reproduktionssysteme in Laboren und können sich im Freiland überhaupt nicht stabil reproduzieren (Sie bilden zwar Nachkommen, aber diese haben stark andere Eigenschaften als die Kultursorte). Außerdem sind viele Kulturpflanzen (oder aber auch Kulturfolger) darauf angewiesen, dass der Mensch die natürliche Sukzession in Ökosystemen unterbindet, z.B. die vielen Pflanzenarten, die auf Mager-Rasen-Weiden gedeihen. Kultivierte biologische Vielfalt ist angewiesen auf kultivierte Habitate. Dagegen ist natürliche oder „wilde“ biologische Vielfalt unabhängig vom Menschen. Deshalb ist die Beziehung unserer modernen, kulturell differenzierten Gesellschaft zur kultivierten biologischen Vielfalt die einer obligatorischen Symbiose: beide sind existenziell aufeinander angewiesen. Dadurch ist die kultivierte biologische Vielfalt nicht nur eine zentrale Ressource, wie in der Bioökonomie, sondern wird als Leben mit seinen spezifischen Erfordernissen und Habitatansprüchen verstanden.

Kopplung von Biokultursystemen mit natürlichen Ökosystemen

Unsere Biokultursysteme sind gekoppelt an die „natürlichen“ Ökosysteme oder besser die unkultivierten Ökosysteme und auf diese angewiesen. Diese Kopplung umfasst drei Aspekte: genetischer, stofflicher und energetischer Austausch. Deshalb müssen Kultursysteme daran angepasst sein innerhalb natürlicher Ökosysteme zu funktionieren. Beispielhaft möchte ich hier auf die genetische Kopplung eingehen. Da Züchtung durch Selektion innerhalb der Biokultursysteme immer einen Verlust biologischer Vielfalt bedeutet, muss die kultivierte biologische Vielfalt immer wieder durch wilde biologische Vielfalt erneuert werden. Um dies zu ermöglichen brauchen die wilden Organismen unkultivierte Lebensräume. Deshalb sind Biokultursysteme über längere Zeiträume immer auf „natürliche“ oder besser unkultivierte Ökosysteme und unkultivierte/wilde biologische Vielfalt angewiesen.

Die Entstehung von Biokultursystemen

Biokultursysteme wurden vom Menschen in Wechselwirkung mit der unkultivierten Welt, der sogenannten Natur, entwickelt. Sie sind historische Phänomene und entstanden mit Beginn der neolithischen Revolution vor circa 10 000 Jahren. Die Entstehung von Biokultursystemen fällt damit zeitlich mit der Entstehung der Landwirtschaft zusammen. Die Land-Wirtschaft allerdings ist ein konzeptioneller Vorfahre der Bioökonomie, welche Land und das Leben als Ressource versteht. Biokultursysteme bieten eine ganz andere Perspektive, die stärker auf die elementaren Eigenschaften von Leben und unserer Interaktion mit diesem eingeht. Es ist auch eigentlich falsch zu sagen, dass Biokultursysteme „entstanden“ sind. Vielmehr sind sie das Resultat einer aktiven Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt. Der Mensch begann Natur zu kultivieren und erschuf so Biokultursysteme, bestehend aus Kulturhabitaten, kultivierter biologischer Vielfalt, Kulturtechnik und Wissen und vor allem auch sich selbst und der kulturell differenzierten menschlichen Gesellschaft.

Die genetisch-kulturelle Evolution von Biokultursystemen

Biokultursysteme werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Der Mechanismus dieser Weitergabe ist einerseits genetisch-biologisch und andererseits kulturell-technisch. Das genetische Material der kultivierten biologischen Vielfalt also von Nutzpflanzen, Nutztieren, aber auch des Menschen wird innerhalb der Biokultursysteme durch biologische Reproduktion an die Nachfolgegenerationen weitergegeben. Der Mensch kontrolliert weitestgehend die genetische Reproduktion der kultivierten biologischen Vielfalt.

Wissen und Technologie über die Kultivierung biologischer Vielfalt werden durch das kulturelle Gedächtnis (im Sinne Assmanns, 2007) an Folgegenerationen vermittelt. Das kulturelle Gedächtnis besteht aus der mündlichen und schriftlichen Weitergabe von Wissen, aber auch der materiellen Weitergabe technischer Konstruktionen.

Biokultursysteme haben also bezüglich ihrer Biologie und ihrer Kultur eine gewisse Beständigkeit über viele Generationen hinweg.

Andererseits befinden sich Biokultursysteme in ständiger Weiterentwicklung. Diese Weiterentwicklung hat ebenfalls genetisch-biologische und kulturelle Aspekte. Einerseits wird die biologische Vielfalt durch fortwährende Züchtung intentional verändert. Es werden neue innovative Sorten und Rassen gezüchtet, während andere verlorengehen. Andererseits finden innerhalb von Biokultursystemen auch nicht intendierte Selektionsprozesse statt. Auch die menschliche Genetik verändert sich in Anpassung an die kultivierte biologische Vielfalt, z.B. durch Lactose-Toleranz bei adulten Menschen als Anpassung an die Kultivierung von Milchkühen. Biokultursysteme schaffen spezifische Selektionsbedingungen, die sich von natürlichen Ökosystemen unterscheiden und denen Menschen und kultivierte biologische Vielfalt unterliegen.

Verbunden mit der biologischen Entwicklung ist die Entwicklung von Wissen und Kulturtechniken, die für die Kultivierung benötigt werden. Es werden z.B. neue Zuchttechniken entwickelt. Ein aktuelles Beispiel ist die Entwicklung des Genome Editings für die Zucht neuer Gemüsesorten und Nutztiere.

Biokultur: vom reinen Fortschritt zum Dialekt aus Tradition und Innovation

In der Bioökonomie dominiert die Ansicht, dass eine gesunde Ökonomie nur durch fortwährende Innovation und technischen Fortschritt möglich ist. Kulturelle Prozesse aber sind nicht reine Fortschrittsprozesse und deshalb passt diese Vorstellung auch nicht zur Entwicklung von Biokultursystemen.

Für Ernst Cassierer ist Kultur im Kern ein Dialekt von Tradition und Innovation (1990, S. 339) und dies ist meiner Meinung nach eine fruchtbare Vorstellung für das Verständnis von Biokultursystemen:

„In allen menschlichen Aktivitäten begegnen wir einer grundlegenden Polarität, die sich auf unterschiedliche Weise beschreiben lässt. Wir könnten von einer Spannung zwischen Verfestigung und Evolution sprechen, zwischen einer Tendenz, die zu festen, stabilen Formen führt, und einer anderen Tendenz, die dieses strenge Schema aufbricht. Der Mensch steht zwischen diesen beiden Tendenzen, von denen die eine alte Formen zu bewahren sucht, während die andere neue hervorzubringen strebt. Es herrscht ein unablässiger Kampf zwischen Tradition und Innovation, zwischen reproduzierenden und kreativen Kräften.“

Der Dialekt aus etablierten Techniken und Wissen sowie innovativen Neuerungen bietet ein alternatives Modell zu dem rein fortschrittsorientierten Modell der Bioökonomie. Es können nicht nur neue Techniken entwickelt sondern auch alte neu entdeckt werden. Diesen Dialekt aus Innovation und Tradition möchte ich als Gegensatz zur Bioökonomie als Biokultur bezeichnen.

Macht in Biokultursystemen: Wem gehören Wissen, Technologie und biologische Vielfalt?

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Biokultursystemen ist, wer ihre Entwicklung kontrolliert.

Dabei geht es um folgende Fragen: Wem gehören kultivierte biologische Vielfalt, Wissen und Technologie? Wer kontrolliert die Erhaltung und Weitergabe von genetischen Ressourcen, Wissen und Technik? Wer bestimmt die Forschungsagenda zur Weiterentwicklung der biologischen Vielfalt und von Kultivierungstechnologien wie der modernen Gentechnik? Zusammengefasst geht es darum, wer die Entwicklung von Biokultursystemen und damit unsere Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, biologischen Baumaterialien und Energieträgern bestimmt.

In den letzten Jahren sind große Saatgut-Konzerne entstanden, die z.B. in ihren privaten Genbanken genetisches Material konservieren und dies auch durch Patente rechtlich absichern. Die Weitergabe von Wissen, Technologie und biologischer Vielfalt zwischen den Generationen findet dadurch zunehmend innerhalb oder zwischen (durch Patentaustauschabkommen) privaten Unternehmen statt. Die Logik der Bioökonomie führt zu einer Akkumulation von Wissen, Technologie und biologischer Vielfalt in immer größeren privatwirtschaftlichen Einheiten.

Eine konstruktiv-kritische Haltung gegenüber der Anhäufung von Technologie, Wissen und „Biokapital“ (kultivierte biologische Vielfalt) gehört für mich zu einer echten Alternative zur Bioökonomie.

Nachtrag vom 27.3.2017

Vor kurzem habe ich das Konzept der Biokultursysteme auf der Wissenschaftstagung Ökolandbau in Freising vorgestellt. Dazu kann man hier das Poster und hier den Beitragstext  herunterladen. Meinen Bericht von der Konferenz kann man in diesem Artikel nachlesen.

Literatur

Assmann, J. 2007. Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Volume 1307. CH Beck.

Bargatzky, T. (1986). Einführung in die Kulturökologie: Umwelt, Kultur und Gesellschaft. Reimer.

Cassierer, E. (1990) Versuch über den Menschen. Eine Einführung in eine Philosophie der Kultur. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Gepts, P. (2004). Crop domestication as a long-term selection experiment. Plant breeding reviews, 24(Part 2), 1-44.

Glaeser, B. Teherani-Krönner, P. (2013). Humanökologie und Kulturökologie: Grundlagen· Ansätze· Praxis. P. Teherani-Krönner (Ed.). Springer-Verlag.

Grefe, C. (2016) Global Gardening – Neuer Raubbau oder Wirtschaftsform der Zukunft? Verlag Antje Kunzmann, München.